Der Temporallappen
Der Schläfenlappen, der Lobus temporalis, ist — gleich nach dem Frontallappen — der zweitgrößte der vier Lobi des Großhirns. Er ist ein abwechslungsreicher Hirnteil, sowohl anatomisch als auch funktional. Das macht ihn sehr interessant.
Scientific support: Prof. Dr. Horst-Werner Korf
Published: 05.09.2011
Difficulty: serious
Die beiden Temporallappen umrahmen den Hirnstamm. Sie bestehen aus iso- und allocorticalen Regionen und enthalten zudem die nicht-corticalen Kerngebiete der Amygdala. Der Temporallappen ist wahrlich „multimodal", er dient mit vielen verschiedenen Zentren vielen Funktionen: dem Riechen, dem Hören, dem Sprechen, dem Verstehen, dem visuellen Erkennen und der Gedächtnisbildung.
Amygdala
Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala
Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Darüber hinaus ist sie an der Verknüpfung von Emotionen mit Erinnerungen, der emotionalen Lernfähigkeit sowie an sozialem Verhalten beteiligt. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.
Doch bevor Missverständnisse aufkommen, sollten wir klären: Die Anatomie meint mit „Schläfe“ die Region knapp vor und direkt über den Ohren. Darunter liegt der größte Teil des Temporalappens. Die Schläfe der Umgangssprache dagegen liegt weiter vorn. Und unter ihr liegt bereits der Frontallappen.
Regionen und Aufbau
Der Schläfenlappen geht zum Hinterhaupt und zum Scheitel hin ohne scharfe Grenze in Parietal– und Okzipitallappen über. Vom Frontallappen ist er durch eine tiefe Furche, die Fissura lateralis, getrennt. In deren Tiefe liegt die Insula. Beim Blick von unten auf das Gehirn sieht man, dass die beiden Schläfenlappen den Hirnstamm „umrahmen“. Immerhin, ihr vorderer, stumpfer Pol liegt tatsächlich am Hinterrand der umgangssprachlichen Schläfe.
Betrachtet man den Temporallappen unter dem Mikroskop, zeigen sich neben Zentren mit dem typischen Sechsschichten-Aufbau des Neocortex auch zahlreiche allocorticale Zentren – also „andersgeschichtete“, nicht-sechsschichtige Cortices. Zudem ist der Schläfenlappen die Heimstatt der Amygdala, die aus schichtartigen — mithin also corticalen — und ungeschichteten Ansammlungen von Nervenzellen besteht. Bei dieser Vielfalt muss man den Temporallappen „Stück für Stück“, regionenweise besprechen.
Ton und Bild und Sprache
Die vielleicht bekannteste Funktion des Temporallappens ist das Hören. Bekannt – ja. Aber augenfällig – nein. Denn das primäre Hörzentrum, die so genannten Heschl’schen Querwindungen, sind in der tiefen Fissura lateralis verborgen. In diesen Windungen endet — nach einigen synaptischen Umschaltungen in Hirnstamm und Thalamus — die Hörbahn, die Signale von den Sinneszellen in der Schnecke des Ohres überträgt. Das primäre Hörzentrum in den Heschl´schen Querwindungen ist nur etwa briefmarkengroß. Wesentlich größer sind die nachgeschalteten sekundären und tertiären auditorischen Zentren. Sie liegen in der oberen und mittleren Windung des Temporallappens und nehmen fast die ganze corticale Fläche des Temporallappens in Beschlag, die man in der Seitenansicht sehen kann. Damit ist das Hören eines der „flächengreifendsten“ Systeme unseres Großhirns – Sprache und Musik erfordern offenbar einen hohen „Rechenaufwand“.
Dort, wo die obere und die mittlere temporale Windung nach hinten hin in die Cortices des Okzipitallappens übergehen – der überwiegend im Dienste des visuellen Systems steht –, „überschneiden“ sich auditorische und visuelle Funktionen. Dort finden sich „lexikalische“ Zentren, die mit der Erkennung geschriebener und gesprochener Worte zu tun haben. Besonders bekannt ist das sensorische Wernicke-Sprachzentrum, das in der dominanten – meist linken – Hemisphäre lokalisiert ist. Eine Läsion in diesem Bereich führt zu Störungen des Sprach– und Schriftverständnisses.
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Duft und Schrecken
Schaut man von unten auf den Temporallappen, entdeckt man auf seiner Innenfläche, knapp hinter seinem stumpfen Vorderpol, eine kleine, nach innen gerichtete Vorwölbung. Man nennt sie „Uncus“, den „Haken“. Dieser Haken hat es in sich: An seiner dreischichtigen, allocorticalen Oberfläche endet die Riechbahn. Gleich unter diesen Riechrinden, ja sogar einen Teil der Riechrinden bildend, liegt die Amygdala, der Mandelkern. Sie gehört funktional zum limbischen System und ist für die affektive Einfärbung unseres Erlebens zuständig. Wobei es allerdings überwiegend die dunklen Farben sind – Furcht und Schrecken –, mit denen sie unsere Seelenräume ausmalt.
Erinnern und Vergessen
Auch für das Gedächtnis spielt der Temporallappen eine wichtige Rolle. Und erneut sind es allocorticale, also „nicht typisch sechsschichtige“ Rindenfelder, die diesen Funktionen dienen – und auch sie rechnet man zum limbischen System. Die am weitesten innen gelegene, breite Windung des Temporallappens, die man in der Untersicht sehen kann, ist der Gyrus parahippocampalis. In ihm liegt der entorhinale Cortex, der eine Art von „Schnittstelle“ zwischen eben jetzt gerade Erlebtem und dem System der Erinnerung darstellt. Gleich daneben und etwas darüber liegt die Hippocampusformation. Um sie zu Gesicht zu bekommen, müsste man den Temporallappen abschneiden und von innen beschauen. Im Zusammenspiel sind diese beiden – Hippocampusformation und entorhinaler Cortex – sowohl für das „Einlesen“ von neuen Gedächtnisinhalten als auch für den Abruf bereits vorhandener Erinnerungen zuständig.
Erinnerungen sind nicht auf Wissen und Biographie begrenzt – sie ermöglichen uns vielmehr die Orientierung im Alltag. Wichtige Schnittstellen zwischen visuellem System und Gedächtnis bilden hier die Isocortices auf der hinteren Unterfläche des Temporallappens. So hat man im spindelförmigen Gyrus fusiformis Zentren gefunden, die mit der (Wieder-)Erkennung von Gesichtern zu tun haben.
Obwohl wir viel über den Temporallappen wissen, weiß man nicht so genau, was sich in den übrigen isocorticalen Regionen, vor allem aber ganz vorne, an seinem stumpfen Vorderpol, abspielt.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.