Die Kleinhirnhemisphären

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Die beiden wulstigen, stark gefältelten Hemisphären des Kleinhirns koordinieren vor allem willkürliche Bewegungen. Bei Primaten sind sie besonders ausgeprägt – und ihre Oberfläche ist fast so groß wie die des Großhirns.

Scientific support: Prof. Dr. Hans-Dieter Hofmann

Published: 23.08.2011

Difficulty: intermediate

Das Wichtigste in Kürze

Die Kleinhirnhemisphären stimmen willkürliche Bewegungen ab und kontrollieren unwillkürliche Bewegungsabläufe. Das schaffen sie durch eine sehr nervenzellreiche Rinde mit mannigfaltigen Verschaltungen: Die Rinde hält die Kleinhirnkerne im Inneren ständig unter ihrer hemmenden Kontrolle und reguliert so deren Informationsfluss zu anderen Hirnarealen wie dem Hirnstamm und, über den Thalamus, zur Großhirnrinde. Die Aktivität des Kleinhirns erzeugt keine Bewegungen, sie kontrolliert vielmehr den Bewegungsablauf.

Kleinhirn und Großhirn nutzen beide das Prinzip der Oberflächenvergrößerung für sich: Ihre Rinde ist nicht glatt, sondern stark gefaltet, mit zahlreichen Erhebungen — den Windungen — und tiefen Tälern — den Furchen. Die lateinischen Namen für diese Erscheinungen sind allerdings unterschiedlich: Beim Großhirn spricht man von Gyri und Sulci, beim Kleinhirn von Foliae und Fissurae. Und es gibt weitere Unterschiede: Die vielen Furchen des Kleinhirns verlaufen annähernd parallel zueinander, zudem ist seine Rinde sehr viel feiner zerklüftet, die Windungen sind schmaler. Den Wettbewerb um die effektivste Oberflächenvergrößerung gewinnt das Kleinhirn damit ganz klar für sich: Im Vergleich zum Großhirn hat es zwar nur 10 Prozent von dessen Gewicht, erreicht aber 75 Prozent von dessen Oberfläche. Und gestreckt wäre das Kleinhirn fast 2 Meter lang.

Struktur und Funktion

Von oben und unten betrachtet erscheinen die beiden Kleinhirnhemisphären entfernt wie wulstige Flügel eines Schmetterlings, getrennt voneinander durch den Wurm, auch Vermis genannt. Bei Säugetieren und insbesondere beim Menschen sind die Kleinhirnhemisphären im Vergleich zu niederen Wirbeltieren besonders ausgeprägt: Im Laufe der Evolution von den Reptilien bis zu den Primaten haben sie immer mehr an Bedeutung gewonnen. Nach hinten unten, zum Austritt des Rückenmarks aus dem Schädel hin, wölben sich die beiden Kleinhirntonsillen hervor. Die Einklemmung der Tonsillen an dieser Austrittsöffnung kann zu schweren neurologischen Symptomen führen.

Wie auch das Großhirn unterteilen sich die Kleinhirnhemisphären in Lappen, lateinisch Lobi genannt, die durch größere Furchen voneinander getrennt sind. Lehrbücher listen die lateinischen Namen zahlreicher Furchen, Lappen und Läppchen auf, die nach ihrer Lage oder Form benannt sind – beispielsweise „hintere seitliche Furche“ oder „halbmondförmiges Läppchen“ – oder einfach durchnummeriert wurden. Allerdings unterliegt dieser Unterteilung meist keine funktionelle Ordnung. Funktionell wichtig jedoch ist die auffällige „erste Furche“, die Kleinhirnhemisphären und Wurm in die entwicklungsgeschichtlich unterschiedlich alten Vorder– und Hinterlappen unterteilt.

Eine übliche, allerdings relativ grobe, funktionelle Einteilung des Kleinhirns hält sich nur teilweise an anatomisch definierte Lappengrenzen. Der größte Teil der Kleinhirnhemisphären zählt zum Neukleinhirn oder Pontocerebellum, das entwicklungsgeschichtlich zuletzt ausgebildet wurde. Es steht in enger Beziehung zur Großhirnrinde und koordiniert zielgerichtete präzise Bewegungen wie das Greifen eines Glases. Der Vorderlappen und Abschnitte der Kleinhirnhemisphären, die jeweils direkt an den Wurm grenzen, sind hingegen Teil des Altkleinhirns oder Spinocerebellums: Es kontrolliert über den Muskeltonus unwillkürliche Bewegungen – zum Beispiel beim Gehen. Eine äußerliche Grenze zwischen den beiden Anteilen ist nicht immer zu erkennen.

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Genauer hingeschaut: Zellulärer Aufbau

Die Kleinhirnrinde folgt allen Windungen und ist — im Gegensatz zur Großhirnrinde — überall fast gleichförmig aufgebaut. Sie besteht aus drei Schichten, der äußeren Molekularschicht, der mittleren Purkinje-​Zellschicht und der inneren Körnerzellschicht. Die Molekularschicht, die dickste Schicht der Rinde, enthält kaum Nervenzellen, aber sehr viele Fasern. Darunter sind vor allem Parallelfasern — die Axone von Körnerzellen aus der innersten Schicht — und Kletterfasern. Diese sind Ausläufer von Nervenzellen aus der Olive und ihren Nebenkernen, wichtigen Zuleitungssystemen zum Kleinhirn.

Die mittlere Purkinje-​Zellschicht fällt durch ihre außergewöhnlich großen Nervenzellkörper auf: Diese nach ihrem Entdecker benannten Purkinje-​Zellen sind in einer Schicht angeordnet und senden ihre Dendriten in die darüberliegende Molekularschicht aus. Dort verzweigen sich diese Dendriten stark – allerdings nicht in alle drei Raumrichtungen, sondern eher wie ein scheibenförmiger Baum: Alle Äste dieses Baumes liegen senkrecht zur jeweiligen Kleinhirnwindung in einer Ebene. Und diese Äste bilden eine ungeheure Zahl von Synapsen mit Parallel– und Kletterfasern. Eine einzelne Purkinje-​Zelle nimmt auf diese Weise mit mehr als 100.000 Parallelfasern Kontakt auf. Die Axone der Purkinje-​Zellen ziehen in dessen Inneres zu den Kleinhirnkernen. Das menschliche Kleinhirn enthält etwa 15 Millionen Purkinje-​Zellen.

In der innersten Körnerzellschicht wiederum wimmelt es nur so von Nervenzellen, hauptsächlich von Körnerzellen mit kleinem, rundem Zellkörper. Sie stellen die größte zusammenhängende Population von Nervenzellen im menschlichen Gehirn. Ihre Axone senden die Körnerzellen in die oberflächennahe Molekularschicht, wo sie sich T-​förmig in zwei Äste aufspalten und die Parallelfasern bilden, die jeweils etwa 1,5 Millimeter in beide Richtungen verlaufen. Dabei kommen sie mit den Zellbäumen von etwa 350 Purkinje-​Zellen in Kontakt.

Die Verschaltungen in der Kleinhirnrinde sind demnach zahlreich und sehr komplex; das Endresultat hingegen ist einfach zu beschreiben: Einzig die Axone der Purkinje-​Zellen verlassen die Rinde, ziehen zu den Kleinhirnkernen und hemmen diese. Die Folge: Die Kleinhirnkerne können keine Informationen aus dem Kleinhirn heraus senden, die Motorik ist gehemmt. Nur wenn andere Fasern die Purkinje-​Zellen selektiv hemmen, können die Kleinhirnkerne Informationen nach außen tragen und Bewegungen initiieren. Durch diese Sicherheitsmaßnahme verhindert das Kleinhirn überschwängliche Bewegungen, die übers Ziel hinausschießen.

Kleinhirnkerne

Tief im Inneren des Kleinhirns verstecken sich die vier paarigen Kleinhirnkerne. Sie sind die einzigen Systeme des Kleinhirns, die Informationen nach außen senden. Drei der Kleinhirnkerne zählen funktionell zum Spino– und Pontocerebellum und damit zu den Kleinhirnhemisphären.

Ihre Namen verraten bereits, wie sie aussehen: Der Nucleus dentatus, der gezahnte Kern, sieht ein wenig wie ein Teil eines Zahnrades aus. Er ist mit zwei Zentimetern Durchmesser der größte und am weitesten seitlich gelegene Kleinhirnkern. Das Profil des Pfropfkerns (Nucleus emboliformis) erinnert an eine Träné, und der Name der beiden Kugelkerne, der Nuclei globosi, ist selbsterklärend. Der Pfropfkern und die Kugelkerne arbeiten eng zusammen und werden daher oft als Nucleus interpositus zusammengefasst. Der vierte Kleinhirnkern, der Nucleus fastigii, sitzt im Vermis.

Der Nucleus dentatus als Teil des Neukleinhirns projiziert zum Nucleus ruber im Hirnstamm sowie über den Thalamus im Zwischenhirn zur Großhirnrinde und ist so an der Koordination zielmotorischer Bewegungen beteiligt.

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