Weh tut es nur, weil es weh tun soll

Grafik: MW
Schmerz Büchel

Schmerzen entstehen nicht im Gehirn, aber ohne unser Hirn wären Schmerzen nicht existent. Mehr noch: Das Gehirn ist der große Schmerzmanipulator. Sobald wir Schmerzen wahrnehmen oder auch nur erwarten, sie wahrzunehmen, sind wir ihnen ausgeliefert. Das Gute: Sobald wir das Gehirn und seine Netzwerke besser kennen, können wir Schmerzen auch gezielt ausschalten.

Published: 27.10.2015

Difficulty: intermediate

Das Wichtigste in Kürze
  • Akuter Schmerz ist ein Signal, das dem Organismus einen drohenden Gewebeschaden signalisiert – er hat hohe Priorität und zwingt uns zum Handeln. Insofern ist Schmerz überlebenswichtig.
  • Dem akuten Schmerz gegenüber steht allerdings der chronische Schmerz, für den es oft keinen Auslöser mehr gibt oder nie gab. Ungefähr acht Millionen Deutsche sind betroffen.
  • Neben dem zum Gehirn aufsteigenden Schmerzsystem gibt es auch ein absteigendes System, das vor allem für die Modulation der Schmerzwahrnehmung zuständig ist. Es wird durch körpereigene morphinartige Substanzen vermittelt und u.a. bei Stress aktiviert.
  • Hier entsteht eine Erwartungshaltung, die der Placeboeffekt nutzt, vermutlich auch die Homöopathie, die aber auch als Noceboeffekt wirksam werden kann.
  • Die detaillierte Organisation der Schmerzverarbeitung im Gehirn ist nach wie vor ein großes Rätsel.
Über den Autor

Christian Büchel studierte Medizin an
den Universitäten
Heidelberg und 
Mannheim. Nach einem Promotionsaufenthalt in Philadelphia und Kopenhagen war er an der
Universität Essen tätig. Seit 2004 ist er Professor für systemische Neurowissenschaften und leitet das gleichnamige Institut in Hamburg. Er wurde mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis und dem Ernst Jung-Preis für Medizin ausgezeichnet. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Angst und Schmerz sowie deren Modulation durch kognitive Faktoren.

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Ein Leben ohne Schmerz! Erspart bleiben würden einem die unangenehmen Stunden nach einer Zahnoperation oder bei einer Mittelohrentzündung. Was sich verlockend anhört, ist aber bei genauerer Betrachtung eine ernsthafte Gefahr. Schmerz ist ein Signal, das dem Organismus einen drohenden Gewebeschaden signalisiert, wie bei einem zu hoch abgebrannten Streichholz, das bereits einen Schmerz an der Hand verursacht, noch bevor wir uns wirklich verbrennen. Wir wissen aus unserer alltäglichen Erfahrung, dass nicht nur Hitze, sondern auch extreme Kälte, mechanische Verletzungen oder Verätzungen zu Schmerz führen.

Aus Sicht der Neurowissenschaften ist diese „multimodale“ Reizverarbeitung keineswegs trivial – andere Sinneszellen reagieren nämlich hochspezifisch auf nur einen adäquaten Reiz. Wir sehen nur Licht und hören nur Schall. Überhaupt genießt das Schmerzsignal gegenüber anderen Reizen aus der Umwelt eine hohe Priorität und zwingt uns zu schnellem Handeln. Wir versuchen unwillkürlich, dem potentiell schädigenden Reiz zu entgehen, um die Integrität des Körpers zu erhalten und Maßnahmen zu ergreifen, die solche Situationen in Zukunft verhindern. Deshalb werden Situationen und Reize, die zu einem Schmerzerlebnis geführt haben, besonders gut im Gedächtnis gespeichert. Diese Regelkette funktioniert natürlich nur bei intakter Schmerzwahrnehmung, und sie ist lebenswichtig. Menschen, die durch eine Genmutation keinen Schmerz empfinden, erleiden schon in frühester Kindheit sehr schwerwiegende Verletzungen, die sie bereits früh zu Pflegefällen machen. Wer keinen Schmerz empfindet, wird krank.

Der akute Schmerz, bei einem drohenden Schaden, ist also, biologisch betrachtet, gut und sinnvoll. Ganz anders sieht es bei chronischen Schmerzen aus, für die es oft gar keinen Auslöser mehr gibt oder im eigentlichen Sinne nie gab. Hier kann man zwar noch eine Signalwirkung des Schmerzes postulieren, diese hat aber kaum einen sinnvollen Einfluss auf das Verhalten und führt zu vielen quälenden Begleiterscheinungen. Jetzt wird die hohe Priorität, die dem Schmerz bei der Verarbeitung aller Sinnesreize zukommt, zum Problem: Der chronische Schmerz steht bei den Betroffenen häufig im Mittelpunkt des Lebens.

In Deutschland leiden ungefähr acht Millionen Menschen an verschiedensten Formen von chronischen Schmerzen. Die Leiden sind meist multifaktoriell bedingt. Das macht sie komplex, erlaubt aber auch, sie auf ganz verschiedenen Ebenen zu beeinflussen. Zum Verständnis und zur Therapie chronischer Schmerzen gehören neurobiologische, psychologische und soziale Faktoren. Darum sollte eine umfassende Schmerztherapie interdisziplinär sein und Psychologen, Anästhesisten, Neurologen, Orthopäden und wenn nötig andere Spezialisten einbeziehen. Es ist nur folgerichtig, dass der chronische, nicht durch akute Gewebeschäden verursachte Schmerz mittlerweile nicht mehr nur als Symptom, sondern als eigenständige Erkrankung gesehen wird. Die moderne Medizin hat gelernt, diese Patienten endlich ernst zu nehmen.

Wenn man vom Schmerzsystem des Menschen spricht, denkt man hauptsächlich an das sogenannte aufsteigende Schmerzsystem, welches Informationen von den Schmerzrezeptoren in der Peripherie (etwa der Haut) über das Rückenmark und weitere Schaltstellen im Hirnstamm bis zur Großhirnrinde übermittelt.

Die neurowissenschaftliche Forschung der vergangenen Jahre hat viel zur Aufklärung dieser Signalwege beigetragen. Auf der kleinsten Ebene konnte zum Beispiel aufgeklärt werden, wie verschiedene Ionenkanäle, also einzelne Proteine der Nervenzellen, zum Schmerzgeschehen beitragen. In Australien hatte man schon lange beobachtet, dass eine bestimmte Art von Mäusen Skorpione frisst, obwohl sie dabei mehrfach gestochen wird. Das war sehr verwunderlich, da der Stich des Skorpions bei anderen Mäusen und auch beim Menschen sehr intensive Schmerzen auslöst, die den Appetit deutlich dämpfen sollten. Die Lösung dieses Rätsels lag in den molekularen Mechanismen der Schmerzrezeptoren. Normalerweise aktiviert ein Bestandteil des Skorpiongiftes einen „Nav1.7“ genannten Ionenkanal in schmerzsensitiven Neuronen, was diese erregt und schließlich Schmerz verursacht. Die resistente Maus besitzt jedoch eine Variante eines benachbarten Kanals, der durch andere Inhaltsstoffe des Giftes aktiviert wird und den eigentlichen Ionenkanal blockiert. So bleiben die Schmerzrezeptoren stumm. Solche molekularen Analysen können zur Grundlage für die Entwicklung neuartiger Schmerzmedikamente werden, indem man gezielt nach Substanzen sucht, die eine Aktivierung des Ionenkanals verhindern. Aber auch die Tatsache, dass ein Inhaltsstoff des Skorpiongiftes Schmerz unterdrücken kann, hat Wissenschaftler dazu bewogen, solche Moleküle für die Schmerzbekämpfung zu erforschen. Auch bei den eingangs erwähnten Menschen ohne Schmerzwahrnehmung findet man Mutationen im Gen von Nav1.7. Selbst wenn viele Fragen offen bleiben – auf der Ebene von Zellen und Molekülen rundet sich das Bild.

Neben dem aufsteigenden Schmerzsystem, welches unter anderem mit den eben erwähnten Natriumkanälen beginnt und in der Großhirnrinde endet, konnten die Neurowissenschaften aber auch absteigende Bahnen vom Hirn zum Rückenmark identifizieren. Dieses absteigende („deszendierende“) System ist vor allem für die Modulation der Schmerzwahrnehmung zuständig.

Im Falle des brennenden Streichholzes kann man sich nach dem Auspusten ganz auf den Schmerz konzentrieren und um Linderung kümmern, etwa durch kaltes Wasser, Salben oder auch wohltuendes Mitleid der Umstehenden. In einer akuten Stress– oder Gefahrensituation ist dies weder möglich noch sinnvoll. Jetzt hat die akute „fight or flight“-Reaktion Vorrang. Im Nervensystem wäre zwar eine akute Schmerzantwort zu verzeichnen, die aber rasch von Schmerzfreiheit gefolgt wird, um den Organismus optimal handlungsfähig zu halten. Dieser faszinierende Mechanismus heißt stressinduzierte Analgesie und wird unter anderem durch körpereigene morphinartige Substanzen vermittelt, sogenannte Endorphine, die vom absteigenden schmerzmodulierenden System ausgeschüttet werden. Auch die schmerzlindernde Wirkung von Opiaten beruht auf der Aktivierung der Rezeptoren für diese „endogenen Morphine“.

Ein bekanntes Beispiel für die nützliche Wirkung der Endorphine ist die Placeboanalgesie. Ein glaubwürdig verabreichtes Mittel kann auch dann hochwirksam gegen Schmerzen sein, wenn es gar keinen Wirkstoff enthält. Der analgetische Effekt entsteht also hier allein durch die Erwartung der Schmerzreduktion. Der zugrundeliegende Mechanismus war lange Zeit unbekannt, und der Placeboeffekt wurde gerne als „psychogen“ abgetan. Patienten, die auf Placebogaben reagierten, wurden als Simulanten abgetan. Mittlerweile hat die neurowissenschaftliche Forschung gezeigt, dass der Placeboeffekt auf klar definierte biologische Wirkungen des absteigenden Schmerzsystems zurückgeht. Man kennt seit neuerem sogar die genauen Orte dieses Geschehens: Während man früher davon ausging, dass die Erwartungshaltung der Patienten die Schmerzwahrnehmung hauptsächlich auf der Ebene der Großhirnrinde moduliert, konnten moderne bildgebende Verfahren zeigen, dass die Schmerzsignale bereits an der ersten Schaltstelle des Systems im Rückenmark unterdrückt werden.

Obwohl diese Studien eindrucksvoll zeigen, dass Placebogaben wirkungsvoll sind, ist eine therapeutische Gabe von Placebo gefährlich. Die Erwartung an eine Therapie hängt nämlich zum Großteil von dem Vertrauen in den Therapeuten ab. Wenn dieser uns durch eine Placebogabe täuscht, kann die Erwartungshaltung und damit der Placeboeffekt auf Dauer zerstört werden. Anders sieht dies bei bestimmten Therapien mit hochverdünnten Stoffen aus: Bei solchen homöopathischen Behandlungen ist in der Regel auch der Therapeut von der Wirksamkeit der Therapie überzeugt, selbst wenn es unwahrscheinlich ist, dass bei dieser Konzentration auch nur ein einziges Molekül der Wirksubstanz verabreicht wird. Interessant hierbei ist die Tatsache, dass mehrere Studien gezeigt haben, dass teure Placebos eine höhere Wirksamkeit besitzen als günstige.

Auf jeden Fall lassen sich Erwartungseffekte sinnvoll nutzen. Viele Studien haben gezeigt, dass etablierte Therapien durch eine zusätzliche positive Therapieerwartung verstärkt werden können. Dieser Effekt kann therapeutisch sehr gut eingesetzt werden. Schmerzmodulation durch Erwartung kann allerdings auch negativ ausfallen. So klagen Studienteilnehmer regelmäßig auch dann über Nebenwirkungen eines getesteten Medikaments, wenn sie – ohne dies zu wissen – in der Placebogruppe waren. Das liegt daran, dass beide Gruppen über die möglichen Nebenwirkungen des Medikaments aufgeklärt werden. Allein die Erwartung möglicher Nebenwirkungen reicht also aus, um diese zu erzeugen. Dieses Phänomen, Nocebo genannt, kommt auch in der klinischen Praxis vor und hat sich durch die Flut an frei verfügbaren Informationen zu Nebenwirkungen von Medikamenten im Internet noch verstärkt.

Auch im Bereich Nocebo hat die neurobiologische Forschung in den letzten Jahren Fortschritte gemacht. So konnte gezeigt werden, dass ähnlich wie bei der Placeboanalgesie eine Modulation nicht nur im Gehirn, sondern bereits im Rückenmark stattfindet. Allerdings ist nach wie vor unklar, welche Botenstoffe den Noceboeffekt beim Schmerz vermitteln.

Ein großes Rätsel in der Schmerzforschung ist die Organisation der Schmerzverarbeitung im Gehirn. Beim Sehen oder Hören ist schon seit langem bekannt, dass diese Sinnesreize in einem vernetzten, aber doch hierarchisch gegliederten System der Großhirnrinde des Menschen verarbeitet werden. Die erste Stufe dieser Verarbeitung geschieht im sogenannten primär sensorischen Seh– oder Hörcortex, deren Aktivierung eine Art neuronales Abbild der eingehenden Sinnesreize darstellt. Nach einem primären Schmerzcortex fahnden die Wissenschaftler bisher dagegen vergebens. Vor wenigen Monaten meldete eine Arbeitsgruppe aus Oxford, ein solches Areal gefunden zu haben. Kurz darauf äußerten sich jedoch namhafte Kollegen auf wissenschaftlichen Internetplattformen zu diesem Artikel und schnell wurde klar, dass die Exklusivität dieses Areals (der sogenannten hinteren Inselrinde) mit dieser Studie alles andere als bewiesen war. Am Rande angemerkt, zeigt dieses Beispiel, dass die wissenschaftliche Selbstkontrolle von Behauptungen in den Neurowissenschaften ganz gut funktioniert. Die naïve Gläubigkeit gegenüber hochrangigen Zeitschriften, immerhin war der Originalartikel im namhaften Blatt „Nature Neuroscience“ erschienen, gehört der Vergangenheit an.

Das Areal, das die Arbeitsgruppe aus Oxford identifiziert hat, ist zwar sicherlich an der Verarbeitung der multidimensionalen Erscheinung Schmerz beteiligt, es ist aber auch bei anderen Aufgaben aktiv. Daher passt dieses Beispiel sehr gut zu der immer stärker werdenden Überzeugung, dass die Vorstellung „ein Hirnareal – eine Funktion“ nicht richtig ist. Vielmehr zeigen viele Studien, dass ein Netzwerk von Gehirnarealen an der Verarbeitung von Schmerzen beteiligt ist. Dem Erleben eines Schmerzes entspricht auf neuronaler Ebene die koordinierte Aktivierung vieler verschiedener Gehirnareale. Wissenschaftler der Universität von Colorado in Boulder konnten zeigen, dass dieses Muster recht spezifisch für den typischen somatischen Schmerz ist. Andere Formen von Schmerz, wie zum Beispiel der Schmerz, ausgegrenzt zu werden, aktivieren dieses Netzwerk nicht. Je mehr wir über solche Aktivierungsmuster wissen, umso mehr lassen sich moderne bildgebende Verfahren wie die funktionelle Kernspintomographie nutzen, um Aussagen über die Intensität des erfahrenen Schmerzes bei einer Versuchsperson zu machen. Diese gefährlich in Richtung gläserner Mensch gehende Möglichkeit des Auslesens der gefühlten Schmerzintensität erreicht in der oben beschriebenen Studie eine Verlässlichkeit zwischen 67 und 100 Prozent.

Nur unschwer lässt sich erraten, dass solche Befunde weite Kreise ziehen und Spekulationen nähren, dass mit kernspintomographischen Untersuchungen eine objektive Erfassung des Schmerzes einer Person etwa in gutachterlichen Fällen möglich sei. Das Beispiel zeigt, dass die schnellen Fortschritte der modernen Neurowissenschaften dringend von einer gesellschaftlichen Diskussion über ethische und rechtliche Aspekte neuer technischer Möglichkeiten begleitet werden muss. Bei aller Faszination der komplexen Methode der funktionellen Kernspintomographie sollte aber nicht übersehen werden, dass sich die Schmerzintensität fast ebenso verlässlich aus der Messung von Hautwiderstandsänderungen und Pupillengröße abschätzen lässt.

Alle bisher beschriebenen Untersuchungen sind korrelativ, zeigen also lediglich, dass Schmerz mit der Aktivierung dieser Areale oder Netzwerke einhergeht. Ob die entsprechenden Hirnregionen ursächlich für die Schmerzwahrnehmung sind, kann fast nur über invasive Verfahren geklärt werden, die gezielt in die beteiligten Strukturen eingreifen. Dies ist beim Menschen natürlich extrem schwierig und weitgehend auf Patienten mit fokalen – also ortsspezifischen – Läsionen der Großhirnrinde beschränkt, zum Beispiel nach Schlaganfällen. Dabei wird aber oft deutlich mehr Gewebe zerstört als nur die interessierende Region. Eine moderne Alternative sind transiente und reversible Ausschaltungen oder Aktivierungen der Gehirnrinde mittels eines sehr starken Magnetfelds. Mit dieser „transkraniellen Magnetstimulation“ konnte gezeigt werden, dass eine Stimulation des motorischen Cortex zu einer Reduktion der Schmerzwahrnehmung führt. Studien zur Stimulation anderer Areale werden folgen, insbesondere Teile der hinteren Inselrinde sind hier von großem Interesse.

Solche weitergehenden Studien sind sehr wichtig, um Mechanismen und Zielregionen für effektive Interventionen zu identifizieren. In Zukunft ist es vorstellbar, durch implantierte Stimulatoren ganze Netzwerke zu beeinflussen, oder durch gezielte Läsionen solcher Areale chronische Schmerzen wirkungsvoll zu therapieren. Dabei haben Studien schon gezeigt, dass es wichtig ist, den Eingriff individuell auf den jeweiligen Patienten abzustimmen. Insbesondere vor einem nicht reversiblen Eingriff sollte allerdings sicher geklärt sein, dass lediglich die Schmerzverarbeitung abgeschwächt wird und nicht auch noch andere Funktionen ausgeschaltet werden. So würde eine Läsion des Motorcortex zwar nach den oben erwähnten Befunden möglicherweise chronische Schmerzen reduzieren, aber eben auch zu irreversiblen Lähmungen führen.

Alles in allem gilt: Trotz aller faszinierenden Erkenntnisse wird die Hirnforschung zu Recht in vielen Belangen kritisch hinterfragt. Dies mag auch an den etwas zu optimistischen öffentlichen Verlautbarungen einiger Hirnforscher liegen, wie zum Beispiel im „Manifest“ aus dem Jahr 2004. Dort wurde unter anderem prognostiziert, dass bis 2014 die Grundlage der Alzheimer-​Demenz verstanden sei. Das hat sich leider nicht bewahrheitet und hat Gegenreaktionen wie das Memorandum „Reflexive Neurowissenschaften“ hervorgerufen. Die Tatsache, dass diese Korrespondenz in populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie „Gehirn und Geist“ oder „Psychologie aktuell“ erschienen ist und von der Tagespresse vielfältig aufgegriffen wurde, zeigt das kontinuierlich hohe Interesse der Allgemeinheit an den Neurowissenschaften.

In dem Memorandum „Reflexive Neurowissenschaften“ wird neben dem Hinweis auf nicht eingehaltene Versprechen insbesondere darauf hingewiesen, dass die Neurowissenschaften anders als die Physik keine adäquaten theoretischen Modelle der wichtigsten Hirnfunktionen hätten. Diese Kritik ist nicht gerechtfertigt, da in den letzten zehn Jahren durch das Aufleben des Bereichs „Computational Neuroscience“ sehr wohl wichtige Vorstöße auf diesem Gebiet gemacht wurden. Hier sei beispielsweise das Konzept des „Predictive coding“ genannt. Dieses Modell wurde in Bezug auf Wahrnehmung entwickelt und besagt im Kern, dass das Gehirn ein inferentielles System darstellt, welches permanent versucht, Wahrnehmung vorauszusagen. Diese Voraussagen werden dann mit der Realität abgeglichen, und die Differenz zwischen Realität und Vorhersage, der Vorhersagefehler, stellt nach diesem Modell die Grundlage unserer Wahrnehmung dar. Besonders faszinierend ist, dass Predictive coding ohne Supervision auskommt, sich also selbst anhand der Umwelt organisiert und entwickelt. Insbesondere die Erweiterung dieses Modells um evolutive Prinzipien durch den Londoner Hirnforscher Karl Friston könnte wesentliche Erkenntnisse zur Arbeitsweise des gesamten Gehirns bringen.

Ähnlich wie in der Physik müssen nun experimentelle Daten gesammelt werden, die diese Modelle entweder unterstützen oder verwerfen. Mittlerweile werden diese Modelle auch auf das Schmerzsystem angewandt und bieten eine theoretische Erklärung, wie das absteigende und das aufsteigende Schmerzsystem interagieren und wie dabei Placebound Nocebo-​Effekte vermittelt werden. Das notwendige „Pingpong“ von Theorie und Experiment war in der Vergangenheit oft an der enormen Komplexität der Systeme gescheitert. Konventionelle Computer müssen bei Simulationen die Zustände der einzelnen Neurone weitgehend sequentiell berechnen und stoßen schnell an Grenzen. Durch stark parallelisierte Grafikprozessoren, aber vor allem durch spezielle Chips wie den von IBM entwickelten Neurochip TrueNorth werden Simulationen vereinzelter Gehirnareale in Zukunft wesentlich besser möglich sein.

Die modernen Neurowissenschaften haben bereits sehr viele Mechanismen der Schmerzverarbeitung aufklären können. Durch seine Milliarden an Nervenzellen, mit noch mehr Verbindungen, ist das Gehirn allerdings eines der komplexesten Organe, die wir kennen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Fortschritt auf diesem Gebiet langsam stattfindet. Moderne neurowissenschaftliche Methoden in Kombination mit theoretischen Modellen werden aber in der Zukunft weitere Erkenntnisse liefern, die dann Patienten – vor allem solchen mit chronischen Schmerzen – zugutekommen werden.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Nozizeptor

Nozizeptor/-/nociceptors

Nozizeptoren sind die Schmerzrezeptoren im Körper. Sie reagieren auf spitze Reize, auf Hitze oder auf chemische Reize wie Säure.
Sie reagieren also auf eine drohende oder bereits eingetretene Verletzung von Gewebe. Beim menschlichen Körper gibt es in jedem Gewebe Nozizeptoren außer im Gehirn und der Leber.

Rückenmark

Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord

Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-​, Thorakal-​, Lumbal und Sakralmark unterteilt.

Hirnstamm

Hirnstamm/Truncus cerebri/brainstem

Der „Stamm“ des Gehirns, an dem alle anderen Gehirnstrukturen sozusagen „aufgehängt“ sind. Er umfasst – von unten nach oben – die Medulla oblongata, die Pons und das Mesencephalon. Nach unten geht er in das Rückenmark über.

Ionenkanal

Ionenkanal/-/ion channel

Ionenkanäle sind in die Zellmembran von Nervenzellen und auch allen anderen Zellen im Körper eingelagert. Sie ermöglichen den Übertritt elektrisch geladener Teilchen, den Ionen, über die Zellmembran ins Zellinnere und nach draußen. Sie können somit das Membranpotenzial einer Zelle beeinflussen, und ein Aktionspotenzial hervorrufen. Eine Vielzahl verschiedener Ionenkanäle ist bekannt. Normalerweise weisen Ionenkanäle eine spezifische Durchlässigkeit nur für eine Art von Ionen auf, z.B. für Natriumionen oder für Kaliumionen. Diese werden entsprechend als Natriumkanäle oder Kaliumkanäle bezeichnet.

Gen

Gen/-/gene

Informationseinheit auf der DNA. Den Kernbestandteil eines Gens übersetzen darauf spezialisierte Enzyme in so genannte Ribonukleinsäure (RNA). Während manche Ribonukleinsäuren selbst wichtige Funktionen in der Zelle ausführen, geben andere die Reihenfolge vor, in der die Zelle einzelne Aminosäuren zu einem bestimmten Protein zusammenbauen soll. Das Gen liefert also den Code für dieses Protein. Zusätzlich gehören zu einem Gen noch regulatorische Elemente auf der DNA, die sicherstellen, dass das Gen genau dann abgelesen wird, wenn die Zelle oder der Organismus dessen Produkt auch wirklich benötigen.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Endorphine

Endorphine/-/endorphins

Abkürzung für endogene Morphine, also für Morphine, die vom Körper selbst gebildet werden. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung und Linderung von Schmerzen. Auch an Euphorie (Hochgefühl) sind sie beteiligt.

Insellappen

Insellappen/Lobus insularis/insula

Der Insellappen ist ein eingesenkter Teil des Cortex (Großhirnrinde), der durch Frontal-​, Temporal– und Parietallappen verdeckt wird. Diese Überlagerung wird Opercula (Deckel) genannt. Die Insula hat Einfluss auf die Motorik und Sensorik der Eingeweide und gilt in der Schmerzverarbeitung als Verbindung zwischen kognitiven und emotionalen Elementen.

Läsion

Läsion/-/lesion

Eine Läsion ist eine Schädigung organischen Gewebes durch Verletzung.

Schlaganfall

Schlaganfall/Apoplexia cerebri/stroke

Bei einem Schlaganfall werden das Gehirn oder Teile davon zeitweilig nicht mehr richtig mit Blut versorgt. Dadurch kommt es zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff und dem Energieträger Glukose. Häufigster Auslöser des Schlafanfalls ist eine Verengung der Arterien. Zu den häufigsten Symptomen zählen plötzliche Sehstörungen, Schwindel sowie Lähmungserscheinungen. Als Langzeitfolgen können verschiedene Arten von Gefühls– und Bewegungsstörungen auftreten. In Deutschland ging 2006 jeder dritte Todesfall auf einen Schlaganfall zurück.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

Läsion

Läsion/-/lesion

Eine Läsion ist eine Schädigung organischen Gewebes durch Verletzung.

Primärer motorischer Cortex

Primärer motorischer Cortex/-/primary motor cortex

Ein Areal des Frontallappens in der Vorderwand der Zentralfurche. Er gilt als übergeordnete Steuereinheit, zuständig für willkürliche — und Feinmotorik. Hier sitzen die Zellkörper der zentralen Motoneurone, deren Axone zu den Basalganglien, zu zahlreichen Kerngebieten im Hirnstamm und zum Rückenmark ziehen. Nur im primären motorischen Cortex kommen die Betz-​Riesenzellen vor, besonders große Motoneurone, deren Axone ohne vorherige synaptische Umschaltung direkt zu den Motoneuronen im Vorderhorn des Rückenmarks ziehen.

Wahrnehmung

Wahrnehmung/Perceptio/perception

Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Dieser Artikel erschien erstmals am 14.10.2015 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Teil der Vortragsreihe „Hirnforschung, was kannst du? — Potenziale und Grenzen“ von Gemeinnütziger Hertie-​Stiftung und FAZ.

Hier unser Video zum Vortrag: Christian Büchel: Schmerz und Schmerzwahrnehmung

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One comment

Gabriella .. 20.01.2017
Placebo Gabe sind zwar wirkungsvoll, aber nicht bei aller Krankheiten . Und wenn der Kontakt zu der Vertrauensarzt nachlässt, lässt der Wirkung auch nach.

Wenn der Therapeut von der Wirksamkeit überzeugt ist, sendet er unbewusste Signale an der Patient, und das verbessert die Heilerfolge. zu minderst auf eine Zeit. Das teure Placebos eine höhere Wirksamkeit besitzen als günstige, das glaube ich nicht. In Wirklichkeit ist es so, dass je mehr man daran glaubt, um so mehr bereit ist man mehr zu bezahlen. Günstigere Placebos werden sicher mehr verkauft, denn auch die , die wenig daran glauben kaufen und denken : "Wenn nicht hilft, schadet nicht"

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