Weise Greise

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Fähigkeiten des alternden Gehirns
Author: Susanne Donner

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Stimmt nicht! Ältere Menschen können vom Jonglieren bis zur neuen Sprache alles lernen. Und in manchen Fähigkeiten übertrumpfen sie sogar jeden Jungspund.

Scientific support: Prof. Dr. Claudia Völcker-Rehage

Published: 29.04.2013

Difficulty: intermediate

Das Wichtigste in Kürze
  • Senioren können bis ins hohe Alter lernen. Ihr Gehirn wächst und regeneriert sich ähnlich dem junger Menschen.
  • Ältere Menschen bauen auf Lebenserfahrung und eine gute Bildung auf und sind deshalb oft besonders klug, sprachgewandt und können komplexe Situationen besser beurteilen. Diese kristalline Intelligenz macht ihre Weisheit aus.
  • Junge Menschen sind indes besonders flink und geistig wendig. Diese fluide Intelligenz lässt mit zunehmendem Alter nach, kann aber trainiert und somit erhalten werden.
Eine andere Intelligenz?

Der Politologe James Flynn aus den USA erregte in den 1980er-Jahren mit der Beobachtung Aufsehen, dass der IQ zwischen 5 und 25 Punkten pro Generation zunimmt. Jüngst gab er der These vom geistigen Höhenflug einen neuen Dreh: Man könne daraus ableiten, dass die Menschen immer intelligenter werden. Man könnte aber auch schlussfolgern, dass sowohl Schule als auch Intelligenztests heute mehr denn je auf das schnelle Abrufen von Leistungen, auf logisches und visuelles Denken ausgerichtet sind.

„Es ist also sehr schwer, junge und alte Gehirne objektiv miteinander zu vergleichen“, kommentiert der Schweizer Psychologe Philippe Rast diese These. „Vielleicht sind die jungen Probanden einfach besser, weil sie anders aufwachsen, zum Beispiel mit Computern vertraut sind, an denen die Tests gemacht werden.“ Und er fordert: „Wir brauchen unbedingt Längsschnittstudien – also Studien, in denen wir dieselben Probanden über einen sehr langen Zeitraum verfolgen–, um das mentale Altern wirklich zu verstehen.“

Charlie Chaplin dachte nie daran, sich zur Ruhe zu setzen. Kaum hatte er seinen 70. Geburtstag gefeiert, wurde er noch zweimal Vater. Doch er besann sich nicht etwa auf die Familie, sondern stürzte sich umso mehr in die Arbeit. Mit 78 Jahren drehte er als Regisseur und Drehbuchautor seinen ersten und einzigen Farbfilm: „Die Gräfin von Hongkong“.

Die Kritiker waren nicht sonderlich angetan von dem Werk. „Eine zähflüssige Romanze“, urteilt das Lexikon des internationalen Films. Doch aus Sicht der Alternsforschung verkörpert Chaplin ein Ideal. Er sprühte vor Lebenslust, Scharfsinn und Esprit – bis ans Lebensende. So sollten wir alle alt werden.

Der gewiefte Alte – eine Randerscheinung? Wo Themen wie Demenz und Parkinson’sche Krankheit die öffentliche Debatte bestimmen, erscheint das so. Wenn in Deutschland von der Überalterung der Gesellschaft die Rede ist, taucht eine Schar seniler Senioren vor dem geistigen Auge auf. Neurowissenschaftler malen mit an dem düsteren Bild: Katrin Amunts von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen beispielsweise. Sie verkündete 2008, dass das Gehirn schon ab 18 Jahren schrumpfe. Nach der Pubertät geht’s also bergab, könnte man meinen.

Demenz

Demenz/Dementia/dementia

Demenz ist ein erworbenes Defizit kognitiver, aber auch sozialer, motorischer und emotionaler Fähigkeiten. Die bekannteste Form ist Alzheimer. „De mentia“ bedeutet auf Deutsch „ohne Geist“.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Akrobatik im Alter

Es gibt nur wenige Forscher, die sich der gesunden Alten annehmen. Die meisten stürzen sich auf die Vergesslichen und Gebrechlichen, in der Hoffnung, ihr Leiden zu verstehen und Therapien zu entwickeln. Diese Konzentration aufs Pathologische verstellt den Blick auf die Realität. Deshalb hat eine Studie, die Arne May 2008 im „Journal of Neuroscience“ veröffentlichte, die Fachwelt verblüfft.

24 Frauen und 20 Männer zwischen 50 und 67 Jahren ließ er drei Monate lang das Jonglieren üben. „Können die das überhaupt noch lernen?“, zweifelten einige Kollegen. „Wir suchten etwas, das einfach ist, was man nie wieder vergisst und was nicht jeder kann wie Radfahren“, erklärt Neurowissenschaftler May, der am Universitätsklinikum Hamburg-​Eppendorf arbeitet. Tatsächlich lernten alle, auch die Rentner, das Kunststück. Im Vergleich zu jungen Menschen brauchten sie lediglich etwas länger.

Unerschöpflicher Geist

Nach Abschluss des Trainings verglich May die Gehirne der Jongleure im Kernspintomografen mit denen einer Kontrollgruppe im selben Alter, die nicht geübt hatte. Überraschend: Sogar im vermeintlich starren Geist der älteren Teilnehmer hatte die Akrobatik Spuren hinterlassen. Der Hippocampus, ein zentraler Bereich für das Lernen, und ein Teilgebiet des Belohnungszentrums, der Nucleus accumbens, waren gewachsen. Die graue Substanz im visuellen Assoziationscortex hatte mächtig zugelegt. Diese Region ist darauf spezialisiert, Bewegungen im Raum zu erfassen. „Auch die Älteren sind lernfähig. Ihre Gehirne haben genauso wie das junge Denkorgan die Fähigkeit zur strukturellen Plastizität“, fasst May zusammen. Sogar schon nach einer Woche Training ist der positive Effekt im Kopf zu sehen. „Und selbst wenn man aufhört zu üben, geht das Polster im Kopf nicht zurück auf Null – ganz unabhängig vom Alter.“Bis heute lässt sich das geistig-​strukturelle Wachstum nicht genau erklären. Aber, so viel ist klar: Das Denkorgan ist kein Bestandsgebäude, an dem stetig der Zahn der Zeit nagt. So weiß man, dass auch im Gehirn von Erwachsenen zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden. Sie entstehen vor allem im Hippocampus, jenem so wichtigen Areal für Lernen und Gedächtnisbildung. Und an Mäusen haben Forscher gelernt, dass sich die neu gebildeten Zellen in die bestehenden Netzwerke einpassen und zur Lernfähigkeit der Tiere beitragen.

„Wir haben die älteren Menschen unterschätzt“, sagt May. Sie lernen lebenslang. „Das sehr düstere Bild des geistigen Abbaus ab 25 Jahren ist definitiv falsch“, bekräftigt der Schweizer Psychologe Philippe Rast.

Assoziationscortex

Assoziationscortex/-/association cortex

Teile des Großhirns, die nicht den primären und sekundären Arealen für sensorische Verarbeitung und Motorik zugeordnet werden. Sie liegen überwiegend im Neocortex, integrieren Informationen mehrerer Quellen, sind Mittelpunkt Thalamocorticaler und cortico-​corticaler Netzwerke und sind funktionell nicht eindeutig abgrenzbar.

Alt schlägt jung

Nicht einmal das Gedächtnis der Senioren ist immer schlechter als das der nachfolgenden Generationen. Rast, der gegenwärtig an der University of Victoria in Kanada forscht, wertete 2012 Daten zu den kognitiven Fähigkeiten von 334 Zürichern zwischen 66 und 81 Jahren aus. Die Probanden sahen unter anderem 27 Wörter je zwei Sekunden lang auf einem Monitor und mussten sich möglichst viele Begriffe einprägen. Über fünf Durchgänge konnten sie sich sukzessive steigern. So wurde die Lernleistung gemessen. Der Test stellt zudem den Wortschatz, das Arbeitsgedächtnis und die Verarbeitungsgeschwindigkeit auf die Probe. Gerade die letzten beiden kognitiven Leistungen lassen angeblich mit dem Alter deutlich nach. Doch in dieser Studie zeigte sich das nicht: Ob die Probanden sich viele oder wenig Wörter merken konnten, hing nicht mit ihren Jahren zusammen. Vielmehr ließ sich die Merkfähigkeit alleine mit dem Wortschatz und dem Arbeitsgedächtnis erklären. Je besser beide waren, desto mehr Begriffe konnten die Senioren abrufen. Lediglich beim Tempo spielte das Alter eine Rolle: Die jüngeren Teilnehmer konnten schneller antworten.

Bei einzelnen Geistesgaben übertrumpft die Silbergeneration sogar die Jüngeren. „Im Kopfrechnen sind sie viel besser“, nennt Rast ein Beispiel, „weil die heutige Jugend mit Taschenrechnern groß wird.“

Alle sieben Jahre erfassen Forscher um Warner Schaie, Psychiater an der University of Washington, die geistigen Fähigkeiten von bis zu 6000 Personen. Diese Seattle Longitudinal Study begann vor über 60 Jahren und ist die längste Erhebung zum mentalen Alterungsprozess überhaupt. Die Befunde rehabilitieren die Betagten: Die über 50-​Jährigen stechen die 25– bis 35-​Jährigen in puncto Sprachkompetenz und Wortgedächtnis aus. Sie können sich besser räumlich orientieren und in komplexen Situationen leichter Schlussfolgerungen ziehen.

Alternsforscher und Biochemiker Christian Behl von der Universität Mainz fasst die bisherigen Befunde so zusammen: „Bei den kurzzeitigen Gedächtnisleistungen, also flink sein, sich schnell etwas merken, rasch Neues begreifen, sind junge Menschen klar im Vorteil. Aber bei langzeitlichen Gedächtnisleistungen, die an die Erfahrung und an die Lebensgeschichte anknüpfen, können die Älteren punkten: Sie sind besser darin, komplexe Sachverhalte zu analysieren und Schlüsse daraus abzuleiten.“

Arbeitsgedächtnis

Arbeitsgedächtnis/-/working memory

Eine Form des Gedächtnisses, häufig synonym mit dem Begriff "Kurzzeitgedächtnis" genutzt. Viele Theoretiker unterscheiden beide Konzepte jedoch klar, mit Hinblick auf die Manipulation von Informationen im Arbeitsgedächtnis. Es hält Informationen zeitweise aufrecht, beinhaltet gerade aufgenommene Informationen und Gedächtnisinhalte aus dem Langzeitgedächtnis, die mit den neuen Informationen in Verbindung gebracht werden. Im Modell von Alan Baddeley und Graham Hitch beinhaltet es eine zentrale Exekutive, eine phonologische Schleife, einen episodischen Puffer und ein visuell-​räumliches Notizbuch. 

Eminenz mit kristalliner Intelligenz

Das Weltwissen und die Lebenserfahrung, die so genannte kristalline Intelligenz, wachsen im Laufe des Lebens. „Es ist wie mit einem guten Obstbaum. Im hohen Alter kann man die besten Früchte ernten“, erklärt May. Deshalb lernen Ältere sinnvollen Stoff auch besser als Junge, weil sie auf Erfahrung und Vorwissen aufbauen können, ergänzt Michael Falkenstein vom Institut für Arbeitsforschung an der Technischen Universität Dortmund.

Demgegenüber steht der Begriff „fluide Intelligenz“ für die Fähigkeit, neue Probleme zu lösen und sich in neuen Situationen schnell zurechtzufinden. Vor allem der präfrontale Cortex und der mediale Temporalcortex sind hier gefordert. Beide Areale sind vergleichsweise stark vom Abbau im Alter betroffen. Bei dieser Intelligenzleistung sind junge Menschen im Vorteil. Kinder lernen darum spielend leicht, mit neuen Geräten wie Smartphones und Tabletcomputern umzugehen.

Lange Zeit nahm man an, dass diese geistige Flexibilität angeboren und unabänderlich ist. Doch das Team um den Psychologen Walter Perrig, Gedächtnisforscher an der Universität Bern, konnte 2008 zeigen, dass die fluide Intelligenz sich sehr wohl mit einem kognitiven Training des Arbeitsgedächtnisses steigern lässt – und zwar bei Erwachsenen. Wenn Senioren jonglieren lernen, warum sollten sie nicht auch ihre geistige Beweglichkeit trainieren können?

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Einer wie keiner

Noch etwas lehren die bisherigen Studien: Keine Gruppe verhält sich in den Tests so heterogen wie die Generation 60 plus. Dies fiel beispielsweise der Psychologin Irene Nagel vom Max-​Planck-​Institut für Bildungsforschung in Berlin auf, als sie 20– bis 30-​Jährige mit 60 bis 70 Jahre alten Personen verglich. Alle sollten sich bestimmte räumliche Muster merken und diese nach kurzer Pause wiedererkennen. Diese Aufgabe fordert in erster Linie das visuell-​räumliche Arbeitsgedächtnis. Nagel analysierte, welche Hirnareale aktiviert wurden. Je anspruchsvoller die Aufgabe, desto mehr sollte das Arbeitsgedächtnis in Beschlag genommen werden, um gute Leistungen zu erzielen. In der Gruppe der älteren Teilnehmer schwankte die Aktivierung des Areals viel stärker als bei den jungen Teilnehmern. Sie schnitten dadurch sehr unterschiedlich ab. Einige Senioren absolvierten den Test mit Bravour und übertrafen viele der Jüngeren, wohingegen andere Senioren sich auffallend schwer taten und mit den Jüngeren nicht Schritt halten konnten.

„Die Streuung in der kognitiven Leistungsfähigkeit bei den über 60-​Jährigen und erst recht bei den über 80-​Jährigen ist enorm“, sagt Rast. Für ihn ist das sogar die wichtigste Erkenntnis der vergangenen Jahre. Auf die Frage nach dem Warum gibt es bisher nur Anhaltspunkte. So beeinflusst der Lebensstil den mentalen Alterungsprozess maßgeblich. Wer reichlich Sport treibt, gesund und ausgewogen isst, nur moderat Alkohol trinkt, hat im dritten Lebensabschnitt einen fitteren Geist. (Drei Fronten gegen Demenz) Es ist möglich, dass die Gehirne infolge des unterschiedlichen Lebenswandels im Lauf der Zeit auseinanderdriften.

Trotz vieler offener Fragen sind sich die Forscher in einem Punkt einig: „Use it or lose it.“ – Das gilt für das Gehirn wie für kein anderes Organ. Rentner, die auf dem Sofa sitzen und ihren Geist erlahmen lassen, schaden ihrer mentalen Verfassung. May glaubt sogar: „Chaplin ist nie tatterig geworden, weil er bis ans Lebensende kreativ und offen für Neues war.“

Arbeitsgedächtnis

Arbeitsgedächtnis/-/working memory

Eine Form des Gedächtnisses, häufig synonym mit dem Begriff "Kurzzeitgedächtnis" genutzt. Viele Theoretiker unterscheiden beide Konzepte jedoch klar, mit Hinblick auf die Manipulation von Informationen im Arbeitsgedächtnis. Es hält Informationen zeitweise aufrecht, beinhaltet gerade aufgenommene Informationen und Gedächtnisinhalte aus dem Langzeitgedächtnis, die mit den neuen Informationen in Verbindung gebracht werden. Im Modell von Alan Baddeley und Graham Hitch beinhaltet es eine zentrale Exekutive, eine phonologische Schleife, einen episodischen Puffer und ein visuell-​räumliches Notizbuch. 

Demenz

Demenz/Dementia/dementia

Demenz ist ein erworbenes Defizit kognitiver, aber auch sozialer, motorischer und emotionaler Fähigkeiten. Die bekannteste Form ist Alzheimer. „De mentia“ bedeutet auf Deutsch „ohne Geist“.

zum Weiterlesen:

  • Flynn, James R.: Are we getting smarter? Rising IQ in the Twenty-​First Century, Cambridge 2012.
  • Boyke J et al: Training-​Induced Brain Structure Changes in the Elderly, The Journal of Neuroscience, 2008 Jul;28(28):7031 – 7035 (zum Text).
  • Rast P: Verbal knowledge, working memory, and processing speed as predictors of verbal learning in older adults. Developmental Psychology, 2011 Sep;7(5):1490 – 1498 (zum Abstract).
  • Gerstorf D et al: Cohort differences in cognitive aging and terminal decline in the Seattle Longitudinal Study. Developmental Psychology. 2011 Jul 9;47(4):1026 – 41 (zum Abstract).
  • Jaeggi SM et al: Improving fluid intelligence with training on working memory. Proceedings of the National Academy of Sciences, 2008 May 13;105(19):6829 – 33 (zum Abstract).
  • Nagel IE et al: Performance level modulates adult age differences in brain activation during spatial working memory. Proceedings of the National Academy of Sciences, 2009 Dec 29;106(52):22552 – 7 (zum Abstract).

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