Question to the brain

Was passiert beim Absetzen von Antidepressiva?

Questioner: Eine Betroffene via E-Mail

Published: 19.07.2013

Was passiert im Gehirnstoffwechsel beim Absetzen von Antidepressiva? Warum kommt es zum Beispiel zu solchen Entzugserscheinungen wie bei Cymbalta?

The editor's reply is:

Prof. Dr. med. Gerhard Gründer, Stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik RWTH Aachen und Leiter der dortigen Arbeitsgruppe Molekulare und Klinische Psychopharmakologie:

Zunächst einmal ist wichtig: Der Begriff „Entzugserscheinungen“ ist das falsche Wort. Antidepressiva machen nicht süchtig wie Alkohol, Opiate oder Kokain. Bei diesen Drogen gibt es ja auch ein psychologisches Verlangen, die Droge immer wieder einzunehmen – bei Antidepressiva ist das nicht der Fall. Außerdem entsteht eine Stigmatisierung, wenn man von Entzugserscheinungen spricht und somit Antidepressiva wie auch andere Psychopharmaka in die Nähe von Rausch-​Drogen rückt. Treffender sind die Begriffe Absetzerscheinungen und Absetzsymptome.

Wie dieses Phänomen entsteht, lässt sich gut anhand von SSRI-​Antidepressiva beschreiben. SSRI steht für selective serotonin reuptake inhibitor, zu Deutsch Selektive Serotonin-​Wiederaufnahme-​Hemmer. Diese Medikamente blockieren den Serotonin-​Transporter. Dadurch kann eine Nervenzelle, die den Botenstoff Serotonin ausgeschüttet hat, diesen nicht wieder aufnehmen. Deswegen erhöht sich die Serotonin-​Konzentration im synaptischen Spalt, also zwischen zwei Nervenzellen. Durch dieses vermehrte Angebot an Serotonin werden Rezeptoren herunterreguliert, das heißt ihre Zahl und ihre Empfindlichkeit für den Botenstoff nehmen ab. Durch diese Veränderungen auf Rezeptor-​Ebene und die nachgeschalteten Prozesse in der Nervenzelle erklärt man sich die antidepressive Wirkung des Medikaments.

Wenn man nun das Medikament absetzt, dann wird der Serotonin-​Transporter nicht mehr blockiert. Nun kann das Serotonin wieder vermehrt in die ausschüttende Nervenzelle aufgenommen werden. Dadurch sinkt die Serotonin-​Konzentration wieder relativ plötzlich. Dabei verändern sich die Rezeptoren nicht sofort, weil diese Prozesse Tage bis Wochen erfordern.

Es entsteht also ein Ungleichgewicht, und das führt zu den Symptomen. Schlafstörungen zum Beispiel entstehen, weil Serotonin im Zusammenspiel mit anderen Botenstoffen den Schlaf reguliert. Serotonin wirkt auch auf den Magen-​Darm-​Trakt, weil es sehr viele Serotonin-​Rezeptoren in der Darmschleimhaut gibt. Wenn man plötzlich das Antidepressivum absetzt und somit den Botenstoff wegnimmt, dann kann das zu Durchfall oder Verstopfung führen.

Auch für das erwähnte Cymbalta dürfte der Mechanismus für die Absetzphänomene ähnlich sein, auch wenn dies kein klassisches SSRI-​Medikament ist. Der Wirkstoff gehört zu den SSNRI-​Antidepressiva. Das heißt: Es hemmt nicht nur die Wiederaufnahme von Serotonin, sondern auch die von Noradrenalin. Aber es fällt sehr schwer zu sagen: Dieses Absetz-​Symptom ist auf Noradrenalin zurückzuführen und jenes Symptom auf Serotonin.

Absetzsymptome sind ein rein physiologisches Phänomen, das nichts mit Sucht oder „Entzug“ zu tun hat. Man kann diese Symptome auch verhindern oder zumindest reduzieren, und zwar durch das so genannte Ausschleichen: Man reduziert die Dosis des Medikamentes über einen gewissen Zeitraum: anfangs etwas schneller, am Ende etwas langsamer. Wenn man eine Tablette oder Kapsel hat, die man nicht zerteilen kann, dann kann man auch das Intervall zwischen zwei Einnahmen vergrößern: Also zum Beispiel nicht mehr jeden Tag eine Dosis, sondern nur noch jeden zweiten. Noch längere Abstände machen dann aber keinen Sinn mehr. Das Ausschleichen sollte man mit seinem Arzt besprechen.

Überhaupt appelliere ich daran, dass Patienten sich mit solchen Fragen jederzeit an ihren Arzt wenden sollten und dass der Arzt diese Bedenken dann auch ernst nehmen muss.

Aufgezeichnet von Franziska Badenschier

Psychosomatik

Psychosomatik/-/psychosomatic medicine

Die Psychosomatik untersucht die Auswirkungen von emotionalen und kognitiven Prozessen auf den Körper, insbesondere auf das subjektive Krankheitsempfinden. Hierzu zählen seelische Probleme mit physischen Folgen wie etwa Essstörungen genauso wie Hypochondrie. Nachdem Psychologen zunächst theoretische Modelle zur Erklärung psychosomatischer Phänomene herangezogen hatten, ist das Fachgebiet seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Seit 2003 gibt es offiziell Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Serotonin

Serotonin/-/serotonin

Ein Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient. Er wird primär in den Raphé-​Kernen des Mesencephalons produziert und spielt eine maßgebliche Rolle bei Schlaf und Wachsamkeit, sowie der emotionalen Befindlichkeit.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Schlafstörungen

Schlafstörung/-/sleep disorder

Ein Sammelbegriff für verschiedene Phänomene, die sich dadurch auszeichnen, dass die Betroffenen keinen erholsamen Schlaf haben. Hierzu können sowohl psychische als auch organische Ursachen beitragen. Die Symptome reichen von Problemen beim Einschlafen und Durchschlafen bis hin zu unerwünschten Verhaltensweisen im Schlaf wie etwa Schlafwandeln, ruhelose Beine beim Einschlafen („restless legs“), Atemaussetzer im Schlaf („Schlafapnoe“) etc. Schätzungen zufolge leiden in den westlichen Ländern bis zu 30 Prozent aller Erwachsenen an irgendeiner Form von Schlafstörung. Die Suche nach den Ursachen ist häufig kompliziert, eine Analyse im Schlaflabor die beste Untersuchungsmethode.

Noradrenalin

Noradrenalin/-/noradranalin

Gehört neben Dopamin und Adrenalin zu den Catecholaminen. Es wird im Nebennierenmark und in Zellen des Locus coeruleus produziert und wirkt meist anregend. Noradrenalin wird oft mit Stress in Verbindung gebracht.

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