Question to the brain
Superhirn nach Hirnverletzungen?
Published: 28.03.2021
Hochgeschwindigkeitsrechenen, nie gelernte Sprachen – manchmal fördern Gehirnverletzungen ungeahnte Fähigkeiten zutage. Wie kommt das?
The editor's reply is:
Professor Sven Bölte, Direktor des Zentrums für Neuronale Entwicklungsstörungen (KIND) am Karolinska Institut, Stockholm: Es gibt Menschen, vor allem autistische, bei denen sich eine besondere Fähigkeit schleichend entwickelt, oft schon im Kindesalter. Diese Fähigkeit, die sogenannte Inselbegabung (Savant Syndrom), bleibt dann meist ein Leben lang erhalten. Daneben gibt es aber auch Menschen, die im Rahmen einer neurodegenerativen Erkrankung, zum Beispiel der Alzheimerkrankheit, oder einer Gehirnverletzung erst im Verlauf des Lebens vorübergehend und recht spontan besondere Fähigkeiten zeigen. Es gibt somit zwei verschiedene Zugänge zu diesem Phänomen. Beide Fälle sind äußerst selten und sind vor allem durch die Parallelität mit den beeinträchtigenden psychischen oder körperlichen Erscheinungen erstaunlich.
Derzeit kann man das Phänomen der besonderen Fähigkeiten nicht exakt erklären Es gibt jedoch Modelle: Bei einer plötzlichen Gehirnverletzung oder Gehirnerkrankung kommt es zu einer Schädigung des Gehirns und damit verbunden auch zu Ausfällen, die sehr vielfältig sein können. Das Gehirn versucht durch kompensatorische Prozesse die verloren gegangenen Fähigkeiten auszugleichen und sich anzupassen. Während dieses Prozesses können zufällig Steigerungen von Fertigkeiten, etwa von musischem oder mathematischem Können als Begleiterscheinung auftreten.
Bei Menschen mit einer bereits im Kindesalter entstehenden Inselbegabung geht man von einer veränderten Gehirnbalance zwischen Bottom-up und Top-Down Prozessen aus. Bottom-up bezeichnet dabei Prozesse der Informationsverarbeitung, die sehr stark von der Sensorik wie Sehen, Hören und Fühlen und so weiter getrieben sind. Bei Top-Down Verarbeitung werden Informationen aufgrund von Erfahrungen, Strategien und Erwartungen anders verarbeitet und bewertet. Im Laufe des Lebens verändert sich die Informationsverarbeitung eines Menschen von einer eher Bottom-up zu einer Top-down Strategie. Bei Menschen mit einer Inselbegabung wird nun vermutet, dass sie eher in der Bottom-up Strategie verweilen oder zumindest weiterhin Zugang zu diesen Informationen haben. Menschen mit einem fotografischen Gedächtnis etwa können die visuelle Information von Bildern im Gedächtnis speichern, ohne diese zu bearbeiten oder analysieren und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abrufen. Diese Fähigkeit entspricht der Bottom-up Strategie. Bei Inselbegabten wird angenommen, dass sie Informationen ohne diese zu intellektualisieren aufnehmen und verwenden können.
Es gibt einige interessante Untersuchungen von Niels Birbaumer, bei Menschen mit der Fähigkeit von Kalenderberechnungen, die also auf Grundlage eines Datums schnell den Wochentag dazu berechnen können. Diese Personen konnten schon in einem sehr frühen Stadium der Informationsverarbeitung Veränderungen in bestimmten Hirnströmen, den ‚frühen Potentialen‘ aufweisen. Die Fähigkeit scheint sich daher eher im Unterbewussten abzuspielen.
Einige interessante Studien hat der australische Wissenschaftlers Allen Snyder vom Center of the Mind in Sydney durchgeführt. Er stimulierte oder hemmte bei gesunden Studenten mithilfe der transkraniellen Magnetstimulation bestimmte frontotemporale Gehirnbereiche und konnte so die Top-down Prozesse vorübergehend Hemmen. Dadurch entstand ein Zugang zu den Bottom-up Prozessen. Snyder hat dies untersucht, indem er Studenten Worte ohne Bedeutung auswendig lernen ließ – eine sehr schwierige Aufgabe. Nach der Stimulation beziehungsweise Hemmung mit der transkraniellen Magnetstimulation waren die Studenten besser in der Lage diese sinnlosen Worte zu lernen.
Aufgezeichnet von Stefanie Flunkert