Smarte Fliegen

Grafik: MW
Author: Susanne Donner

Essen, vergessen und flüchten – Fruchtfliegen reagieren sehr vielfältig in nur leicht unterschiedlichen Experimenten. Sie sind „ultrarationale Geschöpfe“, findet der Magdeburger Neurobiologe Bertram Gerber. 

Scientific support: Prof. Dr. Marion Silies

Published: 06.12.2022

Difficulty: easy

Das Wichtigste in Kürze
  • Larven der Fruchtfliege Drosophila melanogaster lassen sich in nur wenigen Durchgängen auf einen Duft konditionieren.
  • Der Abruf des erlernten Verhaltens erfolgt dennoch nicht automatisch. Auch Fruchtfliegen wägen ab.
  • Sie optimieren ihr Verhalten so, dass sie möglichst viel und vielfältige Nahrung bekommen. 
  • Gefährliche Nahrungskeime meiden Larven innerhalb einiger Minuten. Aber auch hier wägen sie Nutzen und Risiko gegeneinander ab. 
  • Das Verständnis des Fliegengehirns könnte die Künstliche Intelligenz verbessern. 

Es ist nicht schwer, den winzigen Fliegen, die über der Obstschale schwirren, etwas beizubringen: Bertram Gerber vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg praktiziert das jeden Tag. Er stellt dafür ein kleines Plastikgefäß mit einem Duft in eine Petrischale. In die Schale geben die Forscher ein Nährmedium aus Agar. Darauf können die vier Millimeter langen Larven von Drosophila melanogaster sich gut fortbewegen. Noch dazu lässt sich lokal ihr Lieblingsfutter einarbeiten, Zucker zum Beispiel. Schmeckt der Tortenguss am Ort des Duftes süß, merkt sich die Fliegenlarve das nach wenigen Durchgängen „Duft, Zucker – Duft, Zucker - Duft, Zucker“. Spätestens nach dem dritten Mal kriecht sie sofort los, wenn sie den verlockenden Duft wahrnimmt. 

Es ist ein klassisches Konditionierungsexperiment, das bei anderen Tieren ähnlich ausgehen würde. Berühmt wurde es mit dem „Pawlowschen Hund“. Der russische Nobelpreisträger für Medizin Iwan Petrowitsch Pawlow wies nach, dass einem Hund schon der Speichel im Mund zusammenfließt, wenn ein Glockenton ertönt. Vorausgesetzt, er ist vorher darauf konditioniert worden, dass es kurz nach dem Ton tatsächlich Futter gibt. 

Man kann die Fliege durchaus in ihrer Gelehrigkeit beneiden. Immerhin reichen uns Menschen längst nicht immer drei Versuche, um eine neue Vokabel in einer Fremdsprache zu behalten. Und trotzdem neigen wir dazu, die kleinen weißen Larven für tumb zu halten. „Wir haben eine mechanische Vorstellung davon, dass das Tier quasi den Duft riecht und automatisch losläuft“, sagt Gerber. Aber sind die Fliegen wirklich so einfach gestrickt?

Fliegende Automaten oder clevere Fliegen?

Die Vorstellung hält sich hartnäckig. Als „fliegende Uhren“ betitelte die Fruchtfliegen schon der Tübinger Botaniker Wolfgang Engelmann in seinem illustren Werk über das Werden und Vergehen dieser Insekten. Sie schlüpfen morgens pünktlich und gemeinsam. Sie schlafen nachts und beginnen ebenso pünktlich mit Tagesanbruch umherzukriechen. Dieses circadiane, also tagesrhythmische Verhalten steuert ein neuronales Netzwerk, zu dem auch der so genannte Pilzkörper zählt, eine wichtige Struktur im Fliegengehirn. Dort befinden sich unter anderem verschiedene Photorezeptoren, die das Tageslicht erspüren. Genauso können die Fruchtfliegen die Umgebungstemperatur und das Erdmagnetfeld erfassen. 

Und doch sind die Insekten keine Automaten, wie Gerber in eindrucksvollen Experimenten deutlich machen konnte. „Vom Abruf einer Gedächtnisspur bis zur Handlung gibt es einen Zwischenschritt. Im Ergebnis verhält sich die Fliege äußerst smart.“ 

Vor dieser Erkenntnis suchte Gerber die Antwort auf eine bestimmte Frage: Kriechen die auf „Duft-Zucker“ konditionierten Larven zum Duft, weil sie den Duft gut finden oder weil sie dort Zucker erwarten? „Das klingt vielleicht nach Haarspalterei, ist aber psychologisch ein Unterschied – und auch im Gehirn“, erklärt er.

Um den Motiven der Larven auf die Spur zu kommen, präsentierte sein Team den Larven den Duft in einer entfernten Region der Petrischale, süßte aber zugleich das gesamte Nährmedium Würde sie der Duft allein locken, sollten sie zu ihm hinwandern. Doch die Larven rührten sich nicht. Sie waren mit ihrem Zucker an Ort und Stelle zufrieden. Sie legen also nur dann Suchverhalten an den Tag, wenn sie am Ort des Duftes Futter erwarten und dieses nicht schon haben. Die eigentliche Verlockung geht also von der zu erwartenden Nahrung aus. 

Immer der Nahrung nach

Auf Ebene des Gedächtnisabrufs ist dieses differenzierte Verhalten keineswegs trivial – einmal wird die Gedächtnisspur verhaltenswirksam, nämlich dann, wenn die Larve noch kein Futter hat. Im anderen Fall, wenn sie schon Zucker frisst, löst sie kein Verhalten aus. Gerbers Team konnte jüngst ein dopaminerges Neuron im Pilzkörper der Fliegen identifizieren, das für dieses ambivalente Verhalten verantwortlich sein könnte. Es trägt das Kürzel DAN-i1. Seine Fortsätze reichen zum einen in den Pilzkörper selbst hinein. Es sorgt wohl dafür, dass die Fliege zunächst die Assoziation zwischen Duft und Zucker erlernt. Zum anderen aber feuert es auch zu den Ausgangsneuronen zurück. Gerber interpretiert, dass die Fliege den Impuls, zum Duft zu kriechen, auch unterdrücken kann. „Das ist wie ein eleganter Servo im Fahrzeug. DAN-i1 reguliert, ob eine Gedächtnisspur angelegt und in Verhalten übersetzt wird.“

Die Fliege benimmt sich beim Essen damit anscheinend wie ein Mensch. Sitzen wir im Restaurant, würde uns der betörende Duft aus dem Nachbarlokal auch nicht dazu verleiten, den gedeckten Tisch zu verlassen. 

Doch die Fliege ist noch „kaltblütiger“ und „ultrarational“, findet Gerber und begründet das mit dem Ausgang eines anderen Experimentes. Sitzt sie zwar auf süßem Grund, aber mit weniger Zucker als ihr unter dem Training in Verbindung mit dem Duft gereicht wurde, läuft sie beim Wahrnehmen des Duftes doch zu diesem. „Die Aussicht auf mehr – die Gier - treibt sie “, stellt Gerber klar. Auch wenn sie an ihrem Aufenthaltsort mit einer gleichwertigen Menge an Aminosäure gefüttert wird, läuft sie auf das Duftsignal hin los, weil sie sich dort am Zucker laben möchte. 

Man kann die Experimente so deuten, dass die kleinen Larven stets ihren motorischen Aufwand minimieren und die Futtermenge und -diversität maximieren. Schließlich ist es ihre biologische Bestimmung zu wachsen und sich schließlich zu verpuppen.

Bewegung – nur, wenn nötig

Folgt auf einen Duft eine Strafe – zum Beispiel ein Bitterstoff - und sind die Larven darauf konditioniert, reagieren sie später gar nicht auf diesen Duft, wenn sie nicht an Ort und Stelle gerade bitter schmecken. Erst, wenn ihnen die unangenehme Substanz, etwa Chinin, in den Mund kommt, flüchten sie. „Es ist wie das leuchtende Notausgangssignal im Kino. Es interessiert uns nicht, wenn wir in Ruhe den Film schauen. Aber wenn ein Feuer ausbricht, rennen wir natürlich sofort dahin“, so Gerber. 

Das Verhalten des kleinen Insekts in den verschiedenen Experimenten lehrt vor allem eines: Mitnichten ist Drosophila melanogaster ein Automat. Sie ist enorm wendig, clever und lernt schnell. Ohne viel Aufwand kann sie auch eine neue Duft-Futter-Assoziation erlernen. 

Meist reichen ein bis zwei Prisen eines neuen Duftes, gefolgt von einer Zuckerbelohnung, dass die Fliege sich die Kombination merkt. „Es scheint so, dass zwei Gedächtnisse angelegt werden, eines mit dem alten Duft und eines für den neuen Duft. Die alte Spur wird extrem schnell vergessen, meist schon in einigen Dutzend Sekunden, und die neue extrem schnell angelegt. Kurze Zeit existieren aber beide Duftgedächtnisse nebeneinander“, erklärt Gerber. Obwohl Vergessen oft unerwünscht ist, kann es also Vorteile haben, beweist Drosophila. Es schafft Platz für Neues im Gehirn. Ihre Vergesslichkeit macht die Fliege letztlich flexibel. Sie kann in Sekunden auf eine neue Nahrungszusammensetzung im Bioabfall reagieren.

Wie Fliegen die KI verbessern könnten

Eine Einschränkung bei all den Experimentalstudien gibt es allerdings: Das Labor entspricht nicht der Realität in einem Fliegenleben. Gerüche bilden in der Luft Fahnen, durch die Fruchtfliegen hindurchschwirren und darauf unmittelbar reagieren, wenn sie damit Nahrung assoziieren. 

Um das komplexe Verhalten der Insekten besser zu verstehen, hat die Arbeitsgruppe von Martin Paul Nawrot, Physiker an der Universität Köln, deshalb begonnen, den Pilzkörper der Tiere im Computer nachzubilden   ▸ Fliegenhirn im Rechner . Im November 2020 gelang ihm der Beweis, indem er die 10.000 virtuellen Nervenzellen so programmierte, dass die Tiere bei einem Flug durch simulierte Duftschwaden eine Gedächtnisspur anlegen, wenn ihnen eine Belohnung in Form von Futter winkt. 

„Wir gehen aber davon aus, dass die Tiere ein Langzeitgedächtnis haben, in dem sie sich Dinge länger als 24 Stunden merken, und parallel dazu wahrscheinlich in anderen Neuronen ein Kurzzeitgedächtnis“, erläutert Nawrot. Beide wolle er künftig in sein digitales Fliegengehirn integrieren, um zu verstehen, welche Informationen das Tier wie anlegt und abruft. 

„Der Unterschied zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis ist in Lebewesen zentral. Und an den Fruchtfliegen können wir ihn am ehesten verstehen.“ Nawrot könnte sich sogar Anwendungen der Erkenntnisse vorstellen, die weit über die Fliegen hinausgehen: In der Künstlichen Intelligenz unterscheidet man bisher nicht zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. Gut möglich, dass die Fliege uns eines Tages lehrt, klügere Roboter zu bauen.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Engramm

Engramm/-/engram

Ein Engramm, auch als Gedächtnisspur bezeichnet, ist eine neuronale Entsprechung von Gedächtnisinhalten. Es wird vermutet, dass Lernprozesse auf strukturellen Veränderungen in synaptischen Verbindung von Neuronen beruhen.

Wie Fliegen die KI verbessern könnten

Eine Einschränkung bei all den Experimentalstudien gibt es allerdings: Das Labor entspricht nicht der Realität in einem Fliegenleben. Gerüche bilden in der Luft Fahnen, durch die Fruchtfliegen hindurchschwirren und darauf unmittelbar reagieren, wenn sie damit Nahrung assoziieren. 

Um das komplexe Verhalten der Insekten besser zu verstehen, hat die Arbeitsgruppe von Martin Paul Nawrot, Physiker an der Universität Köln, deshalb begonnen, den Pilzkörper der Tiere im Computer nachzubilden  (Link zu 4.22.5 Einfach berechnet) . Im November 2020 gelang ihm der Beweis, indem er die 10.000 virtuellen Nervenzellen so programmierte, dass die Tiere bei einem Flug durch simulierte Duftschwaden eine Gedächtnisspur anlegen, wenn ihnen eine Belohnung in Form von Futter winkt. 

„Wir gehen aber davon aus, dass die Tiere ein Langzeitgedächtnis haben, in dem sie sich Dinge länger als 24 Stunden merken, und parallel dazu wahrscheinlich in anderen Neuronen ein Kurzzeitgedächtnis“, erläutert Nawrot. Beide wolle er künftig in sein digitales Fliegengehirn integrieren, um zu verstehen, welche Informationen das Tier wie anlegt und abruft. 

„Der Unterschied zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis ist in Lebewesen zentral. Und an den Fruchtfliegen können wir ihn am ehesten verstehen.“ Nawrot könnte sich sogar Anwendungen der Erkenntnisse vorstellen, die weit über die Fliegen hinausgehen: In der Künstlichen Intelligenz unterscheidet man bisher nicht zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. Gut möglich, dass die Fliege uns eines Tages lehrt, klügere Roboter zu bauen.

Zum Weiterlesen

  • Engelmann, W.: Fliegende Uhren. Die Uhren der Taufliege. 2009, Tobias-lib, Universitätsbibliothek Tübingen. 
  • Nawrot, M.; Rapp, H.: A spiking neural program for sensorimotor control during foraging in flying insects.  PNAS, 2020, 117(45), https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2009821117 
  • Schleyer, M. et al.: Identification of Dopaminergic Neurons That Can Both Establish Associative Memory and Acutely Terminate Ist Behavioral Expression.  Journal of Neuroscience, 2020, 40(31), https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32586949/
  • Schleyer, M. et al.: Learning the specific quality of taste reinforcement in larval Drosophila.  Elife, 2015, https://elifesciences.org/articles/04711 
  • Chen, Y. et al.: Behavioral Evidence for Enhanced Processing of the Minor Component of Binary Odor Mixtures in Larval Drosophila.  Frontiers in Psychology, 2017, 8 (1923), https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29163299/

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