Question to the brain

Warum gibt es so viele Neurotransmitter?

Published: 09.06.2019

Unser Gehirn nutzt mehr als 100 verschiedene Botenstoffe. Warum müssen es so viele sein – fragt Mathias Böhme aus Sylbitz

The editor's reply is:

Prof. Dr. Ralf Heinrich, Abteilung Zelluläre Neurobiologie an der Georg-August-Universität Göttingen:  Nervenzellen (Neurone) kommunizieren miteinander und mit anderen Zelltypen (z. B. Muskelfasern) durch besondere anatomische Kontakte, die Synapsen. An chemischen Synapsen wird vom vorgeschalteten (präsynaptischen) Neuron ein Botenstoff (Transmitter) in den synaptischen Spalt ausgeschüttet, der an spezifische Rezeptormoleküle der nachgeschalteten (postsynaptischen) Zelle bindet und in dieser eine physiologische Reaktion hervorruft, typischerweise eine Änderung des Erregungszustandes. Mehr als 100 unterschiedliche Moleküle sind bekannt, die im Nervensystem der Tiere über Synapsen Botschaften austauschen. Darunter befinden sich weniger als 20 kleine Transmittermoleküle wie Acetylcholin, Glutamat, GABA und Glyzin, die in den meisten Tiergruppen vorhanden sind und viele unterschiedliche Neuropeptide, die häufig nur in bestimmten Tiergruppen auftreten.

Die Wirkung eines Neurotransmitters wird durch den Rezeptortyp, der in der Membran der postsynaptischen Zelle sitzt und reagiert, bestimmt. Betrachten wir als Beispiel den in Nervensystemen aller Tiere vorkommenden Transmitter Glutamat. Für Glutamat existieren Rezeptortypen, die unterschiedlichste Ionenströme und andere postsynaptische Reaktionen initiieren, welche die postsynaptische Zelle mit unterschiedlichen Zeitverläufen erregen, hemmen und in ihrer nachfolgenden Erregbarkeit verändern können. Aufgrund der direkten synaptischen Kopplung von prä- und postsynaptischer Zelle und vieler Rezeptortypen, die unterschiedliche Effekte vermitteln, würde (im Prinzip) ein einziger Transmitter für den komplexen räumlich-zeitlichen Informationsfluss im Nervensystem ausreichen.

Damit sind wir bei der interessanten Leserfrage angekommen: Wenn doch prinzipiell ein Neurotransmitter ausreichen würde, warum gibt es dann so viele verschiedene Neurotransmitter?

Diese Frage ist nur „grob“ zu beantworten und die Antwort beruht auf der Hypothese, dass sich Nervensysteme und Neurone mehrfach unabhängig im Verlauf der Evolution entwickelt haben. Nesseltiere, Schwämme und Plattentiere besitzen keine Nervensysteme. Allerdings enthalten diese Tiergruppen und sogar einzellige Organismen viele Moleküle, die bei höher entwickelten Tiergruppen wichtige Bestandteile des Nervensystems bilden, wie Ionenkanäle, synaptische Proteine und Transmitter).

Diese Moleküle hatten also ursprünglich eine andere Funktion und wurden mit der Entstehung der Nervensysteme für ihre Aufgaben in Neuronen umgewidmet. Über Rezeptoren in der Zellmembran bemerken Zellen chemische Signale aus ihrer Umwelt und Molekülkomplexe, die die synaptische Ausschüttung von Neurotransmittern ermöglichen, sind an intrazellulären Transportvorgängen in allen Zellen beteiligt. Neurone entwickelten sich evolutionär aus unterschiedlichen Vorläuferzellen, die aufgrund unterschiedlicher funktioneller Proteine unterschiedliche Eigenschaften hatten. Evolution entsteht aus der Abwandlung existierender Strukturen.

Die in allen Vorläuferzellen etablierten molekularen Mechanismen (Peptidsynthese, Vesikeltransport, Exozytose) wurden dann durch weitere Mechanismen ergänzt, unter anderem Transportproteine, die bestimmte Moleküle in Vesikel einschleusen. Dementsprechend haben Neurone, die unterschiedliche Neurotransmitter nutzen, weitgehend übereinstimmende Mechanismen der Transmitterausschüttung.

Außerdem schütten viele Neurone unterschiedliche Transmitter an derselben Synapse aus. Häufig gibt es hier ein kleines Transmittermolekül, der schnell und kurzzeitig Ionenkanäle aktiviert, sowie einen oder mehrere zusätzliche Transmitter (z.B. Neuropeptide), die bei längerer/stärkerer Aktivierung der Synapse ausgeschüttet werden und über metabotrope Rezeptoren dauerhaftere Effekte in den Zellen beiderseits des synaptischen Spaltes hervorrufen können. Dadurch werden die Übertragungseigenschaften einer Synapse in Abhängigkeit ihrer vorherigen Aktivierung dynamisch reguliert.

Fassen wir also zusammen: Die Komplexität tierischer Nervensysteme ist sowohl Grund als auch Folge der Tatsache, dass viele verschiedene Neurotransmitter im Nervensystem koexistieren. Im Laufe der Evolution von Neuronen aus unterschiedlichen Typen von Vorläuferzellen (Hypothese!) haben diverse, bereits für andere Funktionen genutzte Moleküle diese Transmitterfunktionen übernommen, obwohl dies für die Vielfalt synaptischer Signale theoretisch nicht nötig wäre. Das zeigt, dass die Evolution nicht einem Plan folgt, sondern simultan an vielen Stellschrauben die Optimierung physiologischer Prozesse bewirkt.

Aufgezeichnet von Andreas Grasskamp

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